Der programmierte Mensch – Über das Ende der Freiheit im digitalen Finanzraum
Von Oliver Fiechter
Während die EU an der Einführung eines digitalen Euro arbeitet, bleibt eine zentrale Frage unbeantwortet: Wem gehört in Zukunft die Kontrolle über unser Geld – und damit über unser Verhalten? Zwischen Transparenzversprechen und Verhaltenssteuerung verschwimmen die Grenzen demokratischer Kontrolle. Der digitale Euro könnte zum Katalysator einer neuen Ära der Machtverschiebung werden – algorithmisch, effizient und ungreifbar.
Stellen wir uns eine Szene vor, wie sie bald Wirklichkeit werden könnte – technisch ist sie längst möglich. Eine Buchhandlung in der Innenstadt, leise Hintergrundmusik, Menschen blättern in Neuerscheinungen. Ein Mann tritt an die Kasse, legt ein Buch auf den Tresen. Der Titel: Ziviler Ungehorsam im 21. Die Kassiererin scannt den Code, der Kunde hält sein Smartphone über das Terminal. Nichts passiert. Auf dem Display erscheint die Meldung: „Zahlung nicht autorisiert
– Transaktion abgelehnt: Inhalt als subversiv eingestuft“.
Szenenwechsel. Eine junge Frau öffnet die App ihrer Krankenversicherung. Ihre monatliche Prämie ist um 30 Prozent gestiegen. Im Kleingedruckten steht: „Risikozuschlag – auffälliges Konsumverhalten: überdurchschnittlicher Alkoholkonsum festgestellt (Durchschnittsdaten aus Bartransaktionen, App-Aktivitäten, Aufenthaltsdaten)“. Sie hat in letzter Zeit viel mit Freunden gefeiert.
Der digitale Euro – Zentralbankpolitik in Zeiten der Vertrauenskrise
Was nach dystopischer Fiktion klingt, ist technisch längst möglich – und politisch in naher Zukunft denkbar. Schon Ende 2025 könnte es so weit sein – wenn das Europäische Parlament, die EU-Kommission und der Europäische Rat den Plänen ihrer Vorsitzenden Ursula von der Leyen zustimmen. Im Zentrum dieser Entwicklung steht ein Projekt der Europäischen Zentralbank (EZB): die Einführung einer digitalen Zentralbankwährung – des sogenannten digitalen Euro (CBDC – Central Bank Digital Currency).
Offiziell sollen damit die europäische Zahlungsinfrastruktur modernisiert, die geldpolitische Souveränität gesichert und die Nutzung digitaler Zahlungsmittel erleichtert werden. Die tatsächlichen Auswirkungen gehen jedoch weit darüber hinaus.
Die eigentliche Frage lautet: Wer kontrolliert in Zukunft nicht nur den Zugang zur wirtschaftlichen Teilhabe, sondern zur gesamten gesellschaftlichen Existenz? Denn was hier entsteht, ist mehr als ein neues Bezahlsystem – es ist eine neue Form der Verhaltenssteuerung, bei der individuelle Entscheidungen nicht nur beobachtet, sondern aktiv gesteuert werden – algorithmisch, unsichtbar, effizient. Die Parallelen zu autoritären Modellen liegen nicht im Stil, sondern in der strukturellen Reichweite.
Digitale Infrastrukturen und die Illusion der Neutralität
Offiziell geht es beim digitalen Euro um Effizienz, Zahlungsverkehr, digitale Souveränität und die Sicherung der Geldpolitik im digitalen Zeitalter. Dahinter verbirgt sich jedoch eine grundlegendere Frage: Welches Menschenbild, welches Gesellschaftsbild, welches Machtverständnis liegt diesem Projekt zugrunde?
Der digitale Euro wäre kein anonymes Geld. Das heißt, es könnte so gestaltet werden, dass es nur für bestimmte Zwecke oder in einem bestimmten Zeitraum eingesetzt werden kann. Geld wäre dann nicht mehr neutral verfügbar, sondern ein Instrument der Verhaltenssteuerung. In einer Zeit wachsender Vertrauenskrisen gegenüber Institutionen, zunehmender digitaler Überwachung und politischer Polarisierung wirft das Projekt grundlegende Fragen nach der Zukunft bürgerlicher Freiheit auf.
Vor allem aber eröffnet die Programmierbarkeit des Geldes ein neues Kapitel in der Geschichte der sozialen Kontrolle. Wenn jede Transaktion analysiert, kategorisiert und bewertet wird, entstehen Infrastrukturen, die weitreichende Eingriffe in das Verhalten ermöglichen. In Kombination mit künstlicher Intelligenz lassen sich aus den gesammelten Daten Biographien chronologisch abbilden: So können nicht nur vergangene Handlungen nachvollzogen, sondern auch zukünftiges Verhalten vorhergesagt – und gegebenenfalls eingeschränkt – werden.
Predictive Behavior – also die algorithmisch gestützte Prognose menschlichen Verhaltens – wird damit zur Grundlage politischer Sanktionierung. Nicht nur als reaktive Maßnahme, sondern als strategisches Instrument zur Durchsetzung moralischer Normierung. Ziel ist nicht nur die
Disziplinierung, sondern die subtile Erziehung zu einem algorithmisch erwünschten Lebensstil. Eine neue Form digitaler Normativität: leise, effektiv, sozial schwer greifbar.
Demokratie im Strukturwandel – und das Ende klarer Kategorien
Diese Entwicklung wirft nicht nur technische oder ethische Fragen auf, sondern berührt ein tiefer liegendes Paradox unserer Zeit: Was früher klassischerweise mit Autokratie assoziiert wurde – Kontrolle, Restriktion, Überwachung – wird heute zunehmend zum Kennzeichen
westlicher Demokratien. Besonders deutlich zeigt sich dies im Umgang mit der Digitalisierung der Geldordnung: Während Donald Trump in vielen europäischen Medien als Autokrat kritisiert wird, finden sich in seinem Umfeld libertäre Positionen – etwa zur Einführung von Bitcoin als Reservewährung, was faktisch einer Entmachtung der Zentralbank gleichkäme.
Ironischerweise kommen viele libertäre Gegenentwürfe zur digitalen Zentralisierung von Akteuren, die selbst nicht für demokratische Transparenz bekannt sind – wie etwa Donald Trump, dessen Nähe zu autoritären Methoden dem Ansehen libertärer Politik eher schadet als nützt.
Gleichzeitig gibt es in den europäischen Leitmedien auffallend wenig kritische Auseinandersetzung mit den Plänen der Europäischen Zentralbank. Die neue Form des Geldes
– explizit zentralisiert, programmierbar und kontrollierbar – wird kaum als mögliche Einschränkung individueller Freiheit diskutiert. Gleichzeitig steht sie für einen technologisch modernisierten Staatsdirigismus, der tief in die Privatsphäre der Bürger eingreifen kann – ohne dass dies als autoritär bezeichnet wird.
So entsteht eine ideologische Asymmetrie: Während in der Auseinandersetzung mit illiberalen Strömungen autoritäre Tendenzen durchaus benannt werden, bleiben technokratische Kontrollphantasien westlicher Institutionen weitgehend unhinterfragt. Was früher entlang
politischer Lager trennbar war – „liberal“ versus „autoritär“ – verliert an Eindeutigkeit. Was bleibt, ist ein Kampf um Begriffe, Kontrolle und digitale Infrastruktur.
Ideologische Brüche und die Krise der politischen Sprache
Die klassischen politischen Koordinaten verschieben sich. Links und rechts verschwimmen, die politische Mitte verliert an Bindungskraft. An ihre Stelle treten Deutungsregime, die mit moralischen Wahrheitsansprüchen operieren. Auf der einen Seite ein progressives Lager, das sich zunehmend im Spannungsfeld zwischen Gleichheitsversprechen und moralischer Normierung wiederfindet – nicht selten auf
Kosten pluralistischer Debattenräume. Auf der anderen Seite ein technoliberaler Reflex, der auf individuelle Souveränität pocht, dabei aber strukturelle Ungleichheiten oft übersieht.
Paradoxerweise teilen beide Tendenzen eine autoritäre Schlagseite: Während progressive Diskurse mit moralischer Rigidität operieren, bedienen sich libertäre Strömungen rhetorisch der Sprache der Freiheit – während sie faktisch Machtasymmetrien oft unangetastet lassen.
Zwischen digitaler Infrastruktur und politischem Vertrauensverlust
Der digitale Euro steht exemplarisch für diesen ideologischen Wandel. Auf der einen Seite wird er als Instrument für faire und effiziente Zahlungsprozesse präsentiert. Auf der anderen Seite wird er als Vehikel umfassender Überwachung kritisiert. Technologisch eröffnet programmierbares Zentralbankgeld tatsächlich neue Möglichkeiten: Transaktionen könnten zweckgebunden, zeitlich befristet oder sogar personengebunden sein. Was in Krisensituationen nützlich sein kann, birgt das Potenzial struktureller Machtausübung.
Gleichzeitig gewinnen dezentrale Systeme wie Bitcoin als Gegenmodell an Popularität – vor allem in politischen Kreisen, die staatlicher Regulierung misstrauen. Während Europa die Zentralisierung forciert, nehmen in den USA diskursive Experimente mit einem Rückzug des Staates aus der Geldsouveränität zu – mit unklaren Folgen für soziale Gerechtigkeit und demokratische Kontrolle.
Der eigentliche Konflikt unserer Zeit ist nicht mehr ein Streit um Inhalte, sondern ein Kampf um Deutungshoheit. Wenn Begriffe wie „Freiheit“, „Demokratie“ oder „Gleichheit“ je nach Kontext völlig unterschiedlich oder widersprüchlich verwendet werden, verlieren politische Debatten ihre gemeinsame Sprache.
In dieser konzeptionellen Entgrenzung gedeiht ein politischer Nihilismus. Es geht weniger um Lösungen als um Identitäten, weniger um Analyse als um Affekte. Wer sich dem moralischen Rigorismus der einen Seite entzieht, gerät unter Verdacht. Wer auf institutionelle Strukturen setzt, gilt als rückwärtsgewandt. Wer Marktmechanismen betont, gilt als kaltherzig.
Technologische Großprojekte wie der digitale Euro geraten so in ideologische Grabenkämpfe. Sie werden nicht nach ihrer Funktion, sondern nach ihrer politischen Zugehörigkeit beurteilt. Der Diskurs verroht, das Vertrauen schwindet – und damit die Grundlage demokratischer Aushandlung.
Was tun? Was wir brauchen, ist kein neues Dogma – sondern eine digitale Ordnung, die Transparenz, demokratische Kontrolle und Machtbegrenzung in den Mittelpunkt stellt. Ein digitaler Euro mag in einer zunehmend bargeldlosen Gesellschaft sinnvoll sein – aber nicht als Instrument paternalistischer Verhaltenssteuerung.
Wenn Geld digital wird, braucht es klare Regeln: Keine Zweckbindung ohne demokratische Legitimierung. Keine Verhaltensprofile ohne informierte Einwilligung. Keine unsichtbare Kontrolle durch Black-Box-Algorithmen.
Vielleicht ist es an der Zeit, den digitalen Raum nicht mehr den großen Plattformen oder Zentralbanken zu überlassen – sondern ihn als gesellschaftliches Gemeingut zu begreifen. Als etwas, das nur dann legitim ist, wenn es allen gehört.
Nur wenn wir wieder wissen, was unsere Begriffe bedeuten – und worauf wir uns politisch und ökonomisch eigentlich einigen wollen – kann die ideologische Erosion der Mitte aufgehalten werden. Und damit die Gefahr, dass die Extreme zur neuen Norm werden.