Europas wirtschaftliche und militärische Souveränität sichern: Produktivkapital als strategische Notwendigkeit
Von Oliver Fiechter und Thomas Sasse
Europa steht vor einer Richtungsentscheidung: Entweder es bleibt im bisherigen System der kapitalmarktgetriebenen Abhängigkeit von den USA und den Großbanken oder es entwickelt eine eigene, zukunftsfähige Wirtschafts- und Finanzarchitektur.
Die hier skizzierten Reformen bieten die Chance, Kapitalströme systematisch und inflationsneutral in produktive Investitionen zu lenken. Europa kann sich so aus der Abhängigkeit von externen Investoren befreien, seine wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit stärken und langfristig eine Technologie- und Verteidigungsführerschaft aufbauen.
Diese Neuausrichtung erfordert jedoch ein radikales Umdenken in der Geldpolitik, der Kreditvergabe und der Kapitalallokation. Die heutigen Strukturen verhindern eine effiziente Finanzierung von Innovation und Produktion. Stattdessen werden die Kapitalströme von den Finanzmärkten und großen Vermögensverwaltern gelenkt, die sich vor allem an kurzfristigen Renditen orientieren – ein System, das den langfristigen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen Europas zuwiderläuft.
Kapitalallokation als geopolitischer Machtfaktor
Europa braucht dringend Produktivkapital, um sowohl die Sicherheit des Kontinents zu gewährleisten als auch den europäischen Mittelstand in die Lage zu versetzen, Zukunftstechnologien zu entwickeln und umzusetzen.
In der Vergangenheit hat sich die Europäische Zentralbank (EZB) im Windschatten der Federal Reserve (FED) bewegt, indem sie die geldpolitischen Maßnahmen der USA mit zeitlicher Verzögerung übernommen hat. Diese Strategie wird jedoch zunehmend problematisch.
Die USA haben sich auf die Lenkung von Kapitalströmen spezialisiert und private Finanzinstitute wie BlackRock, Vanguard und State Street zu strategischen Akteuren gemacht. Zusammen verwalten sie ein Vermögen von mehr als 50 Billionen US-Dollar, was mehr als drei Vierteln des Bruttoinlandsprodukts der USA entspricht, und lenken das von der Fed geschaffene Geld in militärische, technologische und wirtschaftliche Schlüsselbereiche. Dies verschafft den USA massive geopolitische Vorteile, während Europa von externen Finanzströmen abhängig bleibt.
Die USA sichern sich mit diesem Modell technologische Innovation und militärische Überlegenheit, Europa fehlt eine eigenständige Strategie der Kapitalbildung. Die Abhängigkeit von US-Investitionskapital führt dazu, dass europäische Unternehmen häufig ihre Forschungs- und Produktionskapazitäten verlagern müssen, um Zugang zu Finanzmitteln zu erhalten.
Kritische Zukunftstechnologien sind davon besonders betroffen. Während die USA und China gezielt Kapital in strategische Bereiche lenken, bleibt Europa in vielen dieser Sektoren unterfinanziert und von Drittstaaten abhängig. Dies betrifft nicht nur Mikrochips, sondern auch künstliche Intelligenz, Drohnentechnologie, Cyberabwehr, Hochleistungsrechner, Quantentechnologie und Rüstungstechnologien.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass autonome Waffensysteme, Satellitenkommunikation und KI-gestützte Überwachungstechnologien längst zu entscheidenden Faktoren moderner Kriegsführung geworden sind. Die USA haben die Entwicklung dieser Technologien durch gezielten Kapitaleinsatz frühzeitig vorangetrieben. In Europa hingegen fehlt eine gemeinsame Finanzierungsstrategie für militärische Innovationen, da die Kapitalallokation weitgehend den privaten Finanzmärkten überlassen wird.
Besonders kritisch ist, dass die Fed und BlackRock in Krisenzeiten wie 2008 oder während der COVID-19-Pandemie direkt zusammengearbeitet haben, um Kapitalströme zu steuern. BlackRock verwaltet nicht nur Billionen an Privatvermögen, sondern wurde auch beauftragt, Programme der Fed zum Kauf von Unternehmensanleihen und börsengehandelten Fonds umzusetzen. Damit ist das
Unternehmen de facto zum verlängerten Arm der Fed geworden, der Kapitalströme nach strategischen Kriterien lenkt. Wer das Kapital kontrolliert, kontrolliert die Zukunft – und Europa überlässt diese Macht den USA. Ohne gezielte Kontrolle des Kapitals bleibt Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch verwundbar.
Strukturelle Fehlallokation von Kapital als Kernproblem
Europa mangelt es nicht an Kapital – das Problem ist vielmehr, dass das vorhandene Geld nicht dort ankommt, wo es nachhaltiges Wachstum und Innovation fördern könnte. Während kleine und mittlere Unternehmen (KMU) um Kredite kämpfen, fließen gigantische Summen in spekulative Finanzmärkte. Die strengen
Eigenkapitalvorschriften für Banken durch Basel III und IV haben die Kreditvergabe weiter eingeschränkt. Statt produktive Investitionen zu finanzieren, lenken Banken und institutionelle Anleger ihr Kapital in Immobilien, Aktien und komplexe Finanzprodukte, die hohe Renditen versprechen, aber keinen realwirtschaftlichen Mehrwert schaffen.
Dieses Missverhältnis hat weitreichende Folgen. Der Mittelstand, das Rückgrat der europäischen Wirtschaft, erhält oft nicht die Finanzierung, die er braucht, um in neue Technologien oder Produktionskapazitäten zu investieren. Stattdessen müssen viele Unternehmen Kapital in den USA oder Großbritannien suchen – oft unter der Bedingung, dass sie einen Teil ihrer Geschäftstätigkeit dorthin verlagern. So verliert Europa nicht nur Unternehmen, sondern auch technologisches Know-how, Innovationskraft und Wertschöpfung.
Ökonomen wie Richard Werner weisen darauf hin, dass die Art der Kreditschöpfung über Wachstum oder Krise entscheidet. In seinem Modell der disaggregierten Kredittheorie unterscheidet er zwischen Finanzkrediten, Konsumkrediten und Investitionskrediten. Während Finanzkredite der Spekulation auf den Märkten dienen und lediglich Blasen erzeugen, führen Konsumkredite zu Inflation, ohne die
Produktionskapazität zu erhöhen. Investitionskredite hingegen sind der Schlüssel zu nachhaltigem Wachstum, da sie Produktivität und Einkommen schaffen.
Doch genau hier liegt das Problem: Investitionskredite sind in Europa unterfinanziert. Die Banken sind aus regulatorischen Gründen vorsichtig und vermeiden es, langfristige Investitionen zu unterstützen. Gleichzeitig steigt die Verschuldung in unproduktiven Bereichen. Die Folgen sind wirtschaftliche Stagnation, wachsende soziale Ungleichheit und eine zunehmende Abhängigkeit von externem Kapital.
Europa befindet sich in einer paradoxen Situation: Geld ist im Überfluss vorhanden, aber es wird nicht in die richtigen Kanäle gelenkt. Die Frage ist nicht, ob mehr oder weniger Kredite benötigt werden, sondern wohin sie fließen. Eine Reform der Kapitalallokation ist überfällig.
Die EZB als Hebel: Dezentrale Kapitalbildung für Produktivinvestitionen
Wenn Europa wirtschaftlich unabhängig werden will, muss es die Kontrolle über seine Kapitalströme zurückgewinnen. Die Europäische Zentralbank könnte dabei eine Schlüsselrolle spielen – nicht indem sie einfach mehr Geld druckt, sondern indem sie die Kreditschöpfung in produktive Bahnen lenkt.
Bisher agiert die EZB vor allem als Krisenmanager: Sie senkt die Zinsen, kauft Staatsanleihen oder pumpt Liquidität in die Märkte. Doch diese Maßnahmen führen nicht zwangsläufig dazu, dass das Kapital dort ankommt, wo es am dringendsten gebraucht wird – bei den Unternehmen, die in Forschung, Entwicklung und nachhaltige Produktion investieren.
Ein alternatives Modell wäre die gezielte Förderung von Investitionskrediten durch die EZB. Ein Ansatz könnte „Equipment as a Service“ (EaaS) sein. Anstatt die Unternehmen mit hohen Investitionskosten für Maschinen, Roboter, Software oder andere Produktionsmittel zu belasten, würde eine von der EZB unterstützte Finanzierungsplattform die benötigten Anlagen kaufen und gegen eine monatliche Gebühr an die Unternehmen lizenzieren. Die KMU zahlen also nur für die Nutzung, anstatt einmalig einen hohen Kapitalbetrag für die Anschaffung aufbringen zu müssen.
Das Modell basiert auf der Grundidee, dass Produktionskapazitäten nicht im Eigentum des Unternehmens stehen müssen, um wirtschaftliche Wertschöpfung zu ermöglichen. Ähnlich wie in der Cloud-IT-Welt, in der Unternehmen ihre Serverinfrastruktur nicht mehr selbst betreiben, sondern Rechenleistung und Speicherplatz als Dienstleistung buchen, könnte auch die industrielle Produktion auf ein nutzungsbasiertes Modell umgestellt werden. Dies hätte mehrere Vorteile: Da Unternehmen keine hohen Anfangsinvestitionen mehr tätigen müssen, sondern nur noch für die Nutzung zahlen, würde die Kapitalbindung sinken und transformative Technologien könnten wesentlich schneller und flächendeckender eingesetzt werden.
Ein solches System wäre nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein strategischer Schritt. Während die USA mit Vermögensverwaltern wie BlackRock über zentrale Strukturen gezielt Kapital lenken, könnte Europa mit einem modernen, dezentralen Kooperationsmodell arbeiten, das den Mittelstand stärkt und gleichzeitig Finanzmarktblasen vermeidet. Die EZB würde nicht mehr nur indirekt über die Zinspolitik wirken, sondern gezielt Investitionen in Zukunftstechnologien steuern.
Die entscheidende Frage ist, ob Europa den Mut zu einem radikalen Umdenken in der Finanzpolitik hat. Die derzeitige Situation ist eine Sackgasse: Banken finanzieren Spekulationsblasen, während produktive Unternehmen um Kredite kämpfen. Eine Volkswirtschaft, die langfristig bestehen will, muss ihre Kapitalströme aktiv steuern. Die EZB hat die Instrumente dazu – sie muss sie nur nutzen.
Oliver Fiechter ist Begründer der Theorie der Ökonomie 3.0. Er ist Publizist und Experte für Finanzierung, Innovation und strategische Transformation. Als Managing Partner der Beteiligungsgesellschaft Kipuka entwickelt er alternative Finanzierungsmodelle für den Mittelstand und setzt sich für eine unabhängige europäische Kapitalmarktstruktur ein. Er ist Vordenker der inflationsneutralen Kapitalbildung und Gründer von Future Europe, einer Initiative für die wirtschaftliche Souveränität Europas.
Thomas Sasse ist mehrsprachiger Rechtsanwalt mit Spezialisierung auf Corporate Finance, Asset Management und internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Er promovierte in internationaler Wirtschaftsmediation und war als Geschäftsführer globaler Banken und Unternehmen in Tokio, Singapur, New York und anderen Finanzzentren tätig. Er berät das Bayerische Wirtschaftsministerium, die Stadt München und die Indische Botschaft.