Europas Zukunft liegt in einer Wertegemeinschaft, nicht in politischer Zentralisierung
Ein Kommentar von Oliver Fiechter
Europa steht am Scheideweg. Während einige politische Kräfte eine immer stärkere politische Integration anstreben, wird immer deutlicher, dass der Schlüssel zur Einheit nicht in zentralistischen Strukturen, sondern in einer gemeinsamen Wertebasis liegt. Diese Frage ist angesichts der aktuellen geopolitischen Spannungen und innenpolitischen Entwicklungen drängender denn je. Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen haben nicht nur die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA deutlich gemacht, sondern auch die Notwendigkeit eines eigenständigen und geeinten Handelns unterstrichen. Gleichzeitig gewinnen in mehreren EU-Staaten populistische und nationalistische Bewegungen an Einfluss, die sich offen gegen eine weitere Zentralisierung der EU aussprechen. Dies zeigt: Die politischen Fliehkräfte innerhalb Europas nehmen zu, und ohne eine tragfähige Wertegemeinschaft bleibt die EU ein fragiles Gebilde, das zwischen Integrationsdruck und nationaler Souveränität zerrieben wird.
Die EU als unfertiges politisches Experiment
Die Europäische Union wurde nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika konzipiert. Bereits in den 1940er Jahren sprach Winston Churchill von den “United States of Europe” als Ziel der europäischen Integration. Vor allem in den 1990er Jahren sahen einige EU-Befürworter in den USA ein Vorbild für eine stärkere politische Integration Europas. Doch dieser Vergleich wird der historischen und kulturellen Realität des Kontinents nicht gerecht. Während die USA aus einer klar definierten nationalen Identität heraus eine politische Einheit formten, ist Europa ein Mosaik aus Nationen, Kulturen und Geschichte, das keine erzwungene politische Einheit verträgt.
Der Versuch, europäische Einheit durch technokratische Strukturen zu erzwingen, ohne eine tief verwurzelte Wertebasis zu schaffen, führt in der aktuellen Krisensituation zu Blockaden, Vertrauensverlust und politischer Fragmentierung. Der Ausgang der letzten Europawahlen mit dem Zugewinn der Rechten hat gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht an ein zentralistisch gesteuertes Europa glauben, sondern dass der Wunsch nach einer flexibleren, wertebasierten Zusammenarbeit wächst. Die Debatte über die Zukunft der EU ist daher nicht nur eine institutionelle Frage, sondern eine existenzielle Herausforderung, die über die Rolle Europas in einer sich wandelnden Welt entscheidet.
Dieses Missverständnis ist nicht zufällig, sondern strukturell bedingt. Die EU tut so, als sei sie bereits ein Bundesstaat, ohne jedoch über die rechtlich-politische Legitimation zu verfügen, die eine solche Struktur tragen könnte. Sie erweckt den Eindruck einheitlicher Entscheidungsgewalt, ist aber in Wirklichkeit ein supranationales Gebilde ohne gemeinsame Rechtsgrundlage für eine umfassende politische Steuerung ihrer Mitgliedstaaten. Dieses strukturelle Defizit führt zu Widersprüchen in der politischen Praxis: Während die EU-Kommission immer mehr Kompetenzen beansprucht, fehlt ihr die demokratische Verankerung und Akzeptanz, die ein solcher Machtanspruch erfordern würde.
Europas Stärke liegt in seiner Vielfalt – aber Vielfalt braucht Werte
Die europäische Identität zeichnet sich durch eine tief verwurzelte Vielfalt aus, die nicht als Makel, sondern als Stärke zu betrachten ist. Diese Vielfalt hat über Jahrhunderte hinweg Innovationen hervorgebracht und den Kontinent widerstandsfähig gemacht. In geopolitischen und wirtschaftlichen Krisen zeigt sich jedoch, dass diese Vielfalt auch eine Schwäche sein kann, wenn eine gemeinsame Entscheidungsgrundlage fehlt. Gerade hier zeigt sich, dass eine rein politische Integration nicht ausreicht, um Europa handlungsfähig zu machen. Einheit kann nicht durch Institutionen erzwungen werden, sondern muss aus einer gemeinsamen Wertebasis erwachsen.
Werte sind keine abstrakten Begriffe, sondern handlungsleitende Prinzipien, die menschliches Verhalten bestimmen. In der Sozialpsychologie und Verhaltensökonomie gilt es als gesichert, dass Werte unsere Wahrnehmung, Motivation und Entscheidungsfindung beeinflussen. Der israelische Psychologe Shalom Schwartz, einer der führenden Werteforscher, hat gezeigt, dass Werte universell sind, aber in ihrer Gewichtung und Priorisierung kulturell geprägt sind. Während in individualistischen Gesellschaften Werte wie Selbstbestimmung und Leistung dominieren, stehen in kollektivistischen Kulturen soziale Harmonie und Sicherheit im Vordergrund. In Europa existiert eine hybride Wertearchitektur, die sowohl nationale Identitäten als auch ein übergeordnetes europäisches Wertesystem umfasst.
Die EU ist kein Bundesstaat, sondern ein politisches Hybridmodell
Die EU agiert jedoch nach dem Vorbild der USA, ohne deren strukturelle Voraussetzungen zu erfüllen. Während die USA über eine klare Gewaltenteilung mit einer einheitlichen Exekutive, Legislative und Judikative verfügen, ist die EU eine Mischung aus nationalstaatlicher Souveränität und supranationaler Steuerung ohne effektive Entscheidungsfähigkeit und ohne tiefe demokratische Legitimation. Sie hat eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Steuerpolitik. Sie beansprucht außenpolitische Koordination, aber die Mitgliedstaaten verfolgen ihre eigenen strategischen Interessen. Dieses strukturelle Ungleichgewicht macht die EU nicht zu einem föderalen Gebilde, sondern zu einem politischen Hybridmodell, das zwischen Zentralismus und nationalstaatlicher Autonomie oszilliert.
Die Lösung dieses Problems liegt nicht in einer weiteren Zentralisierung, sondern in der Entwicklung einer Wertegemeinschaft als Grundlage für politisches und wirtschaftliches Handeln. Werte bestimmen das Denken, Handeln und Entscheiden der Menschen. Sie steuern nicht nur die individuellen Motivationen, sondern prägen auch die Art und Weise, wie Gesellschaften organisiert sind und auf Herausforderungen reagieren. Eine Wertegemeinschaft würde nicht nur die Legitimität der europäischen Institutionen stärken, sondern auch die Grundlage für einen echten politischen Zusammenhalt schaffen.
Ein anschauliches Beispiel für die Bedeutung von Wertegemeinschaften liefert die Entscheidungspsychologie. Nach der Frame-Theorie (Tversky & Kahneman) hängen Entscheidungen wesentlich davon ab, wie sie in einem sozialen und kulturellen Werteumfeld interpretiert werden. Stehen in einem Werteumfeld wirtschaftlicher Erfolg und Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund, werden ökonomische Maßnahmen bevorzugt. Stehen dagegen soziale Gerechtigkeit und Gemeinschaftssinn im Mittelpunkt, fallen politische Entscheidungen anders aus. Europa hat hier ein zentrales Problem: Die EU versucht, eine politische Einheit zu formen, ohne eine kohärente Wertearchitektur zu schaffen, an der sich politische Entscheidungen orientieren könnten.
Ohne Wertebasis bleibt politische Integration instabil
Politische Integration ohne ein solches Wertefundament bleibt instabil. Studien aus der Verhaltensökonomie zeigen, dass geteilte Werte eine weitaus stärkere Bindungswirkung entfalten als wirtschaftliche Vereinbarungen oder gesetzliche Regelwerke. Gesetze können Verhalten normieren, aber keine Identität stiften. Der Versuch, Europa allein durch bürokratische
Strukturen zusammenzuhalten, ignoriert diese grundlegende Erkenntnis. Eine Wertegemeinschaft hingegen würde eine tiefere Legitimation und eine emotionale Bindung zwischen den Bürgern Europas schaffen, die weit über die heutigen institutionellen Mechanismen hinausgeht.
Die Notwendigkeit einer Wertegemeinschaft zeigt sich auch in der sicherheitspolitischen Debatte. Die USA haben sich zunehmend aus ihrer Rolle als unangefochtener Garant der europäischen Sicherheit zurückgezogen und Europa muss eine eigenständige Verteidigungsstrategie entwickeln. Doch was bedeutet Sicherheit im europäischen Kontext? Geht es nur um militärische Verteidigung oder gehören auch wirtschaftliche Resilienz, Energieunabhängigkeit und digitale Souveränität dazu? Ohne eine gemeinsame Wertebasis bleibt die europäische Sicherheitsstrategie ein Flickenteppich nationaler Interessen.
Das Versäumnis, eine gemeinsame europäische Identität zu entwickeln, führt dazu, dass die Europäische Union immer wieder mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hat. Das Vertrauen in die europäischen Institutionen bleibt begrenzt, da sie häufig als technokratisch und entfremdet wahrgenommen werden. Gleichzeitig wird die europäische Politik zunehmend von Interessenkonflikten zwischen den Nationalstaaten geprägt, da ein übergeordneter Wertekanon fehlt, der als Richtschnur für gemeinsame Entscheidungen dienen könnte.
Wertegemeinschaft oder Zerfall – Europas entscheidender Moment
Die Zukunft Europas hängt davon ab, ob es gelingt, eine solche Wertegemeinschaft zu gestalten. Dazu bedarf es eines neuen Integrationsverständnisses, das nicht auf erzwungener Zentralisierung, sondern auf einer tiefen kulturellen und gesellschaftlichen Verankerung gemeinsamer Prinzipien beruht. Dabei geht es nicht um die Auflösung nationaler Identitäten, sondern um deren Integration in einen europäischen Rahmen, der auf einem klar definierten Wertefundament beruht. Eine solche Entwicklung würde nicht nur die politische Handlungsfähigkeit Europas stärken, sondern auch seine wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit und globale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen.
Die Europäische Union muss sich entscheiden, ob sie weiterhin versucht, über politische Strukturen eine künstliche Einheit zu schaffen, oder ob sie den Weg einer Wertegemeinschaft geht. Die bisherigen Integrationsversuche zeigen, dass eine rein institutionelle Annäherung nicht ausreicht. Europa braucht eine Identität, die von innen heraus wächst und nicht von Brüssel aus verordnet wird. Die Zukunft des Kontinents entscheidet sich nicht in
Kommissionssitzungen, sondern in den Köpfen und Herzen seiner Bürger. Nur wenn Europa sich dieser Herausforderung stellt, kann es als starke, geeinte und handlungsfähige Gemeinschaft bestehen.
Über den Autor
Oliver Fiechter ist Gründer des ISG Instituts St. Gallen, das sich seit Anfang der 2000er Jahre intensiv mit Werteforschung im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext beschäftigt. Im Jahr 2009 initiierte er gemeinsam mit PricewaterhouseCoopers die grösste europäische Werteforschungsplattform “Swiss Spirit”, um die Rolle von Werten in politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen umfassend zu analysieren.