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Ökonomie 3.0 und der Libertarismus – Widerspruch oder Evolution?

Lead
Die westlichen Demokratien erleben eine ideologische Verschiebung: Während auf der einen Seite staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zunehmen, wächst auf der anderen Seite die Begeisterung für libertäre Ideen, die jede Form staatlicher Regulierung ablehnen. Doch was bedeutet diese Entwicklung für die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft? Ist der Libertarismus mit der Idee der Ökonomie 3.0, einem Modell kooperativer Wertschöpfung, vereinbar oder steht er ihr entgegen? Wir sprechen mit Oliver Fiechter, Begründer der Ökonomie 3.0 und Autor des Buches Die Wirtschaft sind wir, in dem er den Begriff 2012 erstmals einführte.

Interviewer:

Herr Fiechter, wir erleben derzeit eine Dynamik, in der sich westliche Demokratien entweder verstärkt in Richtung staatlicher Regulierung oder in Richtung eines radikalen Libertarismus bewegen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Oliver Fiechter:

Beides sind extreme Antworten auf ein reales Problem. Einerseits hat der Staat in vielen Bereichen versagt – sei es bei der Innovationsförderung, der Finanzpolitik oder der Krisenbewältigung. Das treibt viele Menschen in die Arme libertärer Ideen. Zum anderen hat der Libertarismus in seiner radikalen Form massive Schwächen, weil er Gesellschaften eher spaltet als eint. Die reine Marktlogik, in der jeder sich selbst der Nächste ist, führt nicht zu nachhaltigem Wachstum, sondern zu Machtkonzentration und wirtschaftlicher Instabilität. Aber auch die andere Richtung, die auf einen starken Staat setzt, ist äußerst gefährlich, weil sie individuelle Freiheit erstickt und Innovation hemmt.

Interviewer:

Ist Ökonomie 3.0 eine Antwort auf dieses Spannungsfeld??

Oliver Fiechter:

Genau. Ökonomie 3.0 ist kein Marktfundamentalismus, aber auch keine Planwirtschaft. Sie geht davon aus, dass die Wirtschaft am besten funktioniert, wenn sie dezentral, kooperativ und interoperabel organisiert ist. Der klassische Libertarismus unterschätzt, dass Märkte nicht einfach durch Wettbewerb funktionieren, sondern durch intelligente, vernetzte Kooperation. Gleichzeitig brauchen wir keine übermächtigen Staaten, die die Märkte mit Bürokratie ersticken. Das Problem ist, dass wir derzeit zwischen diesen beiden Lagern gefangen sind – und keine Seite wirklich eine zukunftsfähige Lösung bietet.

Interviewer:

Libertäre würden sagen, der Markt reguliert sich selbst. Warum sehen Sie das kritisch?

Oliver Fiechter:

Weil es in der Praxis einfach nicht funktioniert. Ein Markt ohne gewisse gemeinsame Spielregeln führt nicht zu mehr Freiheit, sondern zur Monopolisierung durch die Kapitalstarken. Ein Beispiel ist die Tech-Industrie: Libertäre argumentieren, dass Wettbewerb Innovation fördert, aber in der Realität sind es wenige Konzerne wie Google, Meta oder Tesla, die durch Marktmacht und Netzwerkeffekte faktisch unantastbar sind. Ein unregulierter Markt schafft also nicht automatisch Chancengleichheit, sondern fördert Oligopole.

Interviewer:

Der Libertarismus beruft sich ja auf das sogenannte „Nichtaggressionsprinzip“ von Murray Rothbard. Sehen Sie darin eine tragfähige Grundlage für eine neue Wirtschaftsordnung?

Oliver Fiechter:

Das Nichtaggressionsprinzip ist der ideologische Kern des Libertarismus. Es besagt, dass niemand Gewalt oder Zwang gegen eine andere Person oder deren Eigentum anwenden darf, außer zur Selbstverteidigung. In der Theorie klingt das vernünftig, doch in der Praxis stellt sich ein Problem: Wenn sich jeder nur auf sein individuelles Recht beruft, fehlt die Grundlage für eine echte Kooperation.

Die freie Kooperation der Individuen ist eine zentrale Forderung des Libertarismus – paradoxerweise kann aber eine Überdehnung der individuellen Rechte gerade diese Kooperation unterminieren. Denn Kooperation braucht Regeln – nicht zentral vom Staat vorgegeben, sondern in iterativen Prozessen, in denen die Individuen diese gemeinsam aushandeln. Fehlt dieser Mechanismus, endet der Libertarismus schnell in einem Anarchokapitalismus, der letztlich nur den Mächtigsten nützt.

Interviewer:

Liegt hier also die entscheidende Schwäche des klassischen Libertarismus?

Oliver Fiechter:

Ja, der radikale Libertarismus geht von einem Idealbild des isolierten Individuums aus, das völlig unabhängig agiert. In der Realität aber hängt wirtschaftliche Wertschöpfung von vertrauensvollen Beziehungen, abgestimmten Standards und wiederkehrenden Kooperationen ab. Deshalb plädiere ich für eine europäische Antwort: den explizit kooperativen Libertarismus. Er bewahrt die Grundprinzipien des Libertarismus – Marktmechanismen, Eigenverantwortung, Innovationsfreiheit – ergänzt sie aber um sozial verbindliche Kooperationsnormen, die in einem evolutionären Prozess entstehen.

Interviewer:

Das klingt fast wie eine Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft.

Oliver Fiechter:

Ja, die soziale Marktwirtschaft war eine geniale Idee, aber sie basiert auf dem Industriezeitalter und wird den Anforderungen einer digital vernetzten Welt nicht mehr gerecht. Der kooperative Libertarismus könnte das Konzept der sozialen Marktwirtschaft beerben. Wir brauchen ein System, das Freiheit mit Interoperabilität verbindet, in dem Unternehmen miteinander statt gegeneinander wirtschaften. Dabei geht es nicht um klassische Regulierung, sondern um eine Form des „Systemdesigns“, bei dem Marktmechanismen bewusst in eine vernetzte, kooperative Richtung gelenkt werden.

Interviewer:

Wäre das nicht immer noch eine Art Regulierung?

Oliver Fiechter:

Das wäre eine intelligente Rahmensetzung, aber keine staatliche Detailsteuerung. Das Internet ist ein gutes Beispiel: Es ist dezentralisiert, offen und interoperabel. Niemand schreibt vor, wie Websites aufgebaut sein müssen, aber es gibt Protokolle und Standards, die eine Zusammenarbeit ermöglichen. Ähnlich könnte es in der Wirtschaft funktionieren: Statt Bürokratie und Kontrolle setzen wir auf dynamische, anpassungsfähige Kooperationssysteme, die Innovationen fördern, aber auch dafür sorgen, dass der Wohlstand nicht nur einer kleinen Elite zugute kommt.

Interviewer:

Abschließend: Ist Ökonomie 3.0 also eine Weiterentwicklung des Libertarismus oder sein Gegenteil?

Oliver Fiechter:

Weder noch. Sie nimmt die besten Elemente des Libertarismus – Marktfreiheit, Eigenverantwortung, Innovation – und ergänzt sie um das, was ihm fehlt: systemische Vernetzung, Synergien und eine nachhaltige Perspektive. Die Zukunft liegt weder in einem überregulierten Staatskapitalismus noch in einem entfesselten Marktfundamentalismus. Die Lösung liegt in intelligenter Koordination ohne Bevormundung – das ist kooperativer Libertarismus.

Kastentext
Was ist die Ökonomie 3.0?

Ökonomie 3.0 ist ein Wirtschaftsmodell, das auf Interoperabilität, Kooperation und dezentrale Wertschöpfung setzt. Es wurde erstmals 2012 von Oliver Fiechter in seinem Buch Die Wirtschaft sind wir! entwickelt und beschreibt eine Wirtschaftsordnung, die über die klassische soziale Marktwirtschaft hinausgeht und sich den Anforderungen der vernetzten, digitalen Welt anpasst..

Die fünf Grundprinzipien der Ökonomie 3.0:

  1. Kooperative Marktwirtschaft – Unternehmen agieren nicht isoliert, sondern vernetzt und synergetisch.
  2. Dynamische Regeln statt zentraler Regulierung – Standards und Spielregeln entstehen in iterativen Prozessen, nicht durch starre staatliche Vorgaben.
  3. Interoperabilität statt Abschottung – Wertschöpfung entsteht durch flexible, offene Netzwerke und branchenübergreifende Kooperationen.
  4. Kapital als Katalysator, nicht als Selbstzweck – Finanzmärkte dienen der Realwirtschaft, nicht der Spekulation.
  5. Technologie als Enabler – Blockchain, KI und digitale Plattformen ermöglichen neue Formen des Wirtschaftens ohne überbordende Bürokratie.

Ökonomie 3.0 versteht Wirtschaft als offenen, selbstoptimierenden Organismus, der sich jenseits von Wettbewerb durch intelligente Kooperation und evolutionäre Anpassung entwickelt. Sie ist weder Planwirtschaft noch entfesselter Marktliberalismus, sondern ein dritter Weg, der Effizienz mit gesellschaftlichem Fortschritt verbindet.