Zwischen Rand und Mitte – Deutschlands demokratischer Umbruch 

Kommentar zur deutschen Bundestagswahl von Oliver Fiechter* 

Die Bundestagswahl am vergangenen Sonntag hat ein deutliches Zeichen gesetzt: Mit einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent hat die deutsche Bevölkerung bewiesen, dass sie Demokratie nicht nur theoretisch anerkennt, sondern auch aktiv lebt. Dieses beeindruckende Engagement sollte Anlass zur Freude sein – denn Demokratie lebt von der Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Vielschichtigkeit des Wahlergebnisses wirft aber auch ein Schlaglicht auf die Herausforderungen, vor denen unser politisches System steht. 

Die Ergebnisse spiegeln eine Gesellschaft im Wandel wider: Die Ränder wachsen, die Mitte schrumpft. Die Randparteien – von der extremen Linken bis zur AfD – konnten prozentual zulegen, während die Mitte, exemplarisch am desaströsen Ergebnis der SPD, ins Wanken geriet. Die traditionellen Parteien, die einst als stabiler Kern galten, müssen erkennen, dass ihre bisherige Positionierung nicht mehr selbstverständlich ist. 

Was können wir daraus lernen: Die Demokratie ist keine symmetrische Figur mit einem festen, nach vorne gerichteten Zentrum mehr. Sie gleicht vielmehr einem Zerrbild mit vielen Ecken und Enden – unbequem, oft unübersichtlich, aber dennoch legitim. Die demokratische Geometrie verlangt von allen Beteiligten, sich immer wieder in Koalitionen zu bewegen, in denen sowohl die Werte als auch die thematische Kongruenz nicht immer vorgegeben sind, sondern im Aushandlungsprozess hergestellt werden müssen. Das ist politische Arbeit, die politisches Handwerk erfordert und politische Profis (die den Steuerzahler viel Geld kosten) legitimiert. 

Die kategorische Forderung nach einer “Brandmauer” zwischen den politischen Lagern ist nicht nur undemokratisch, sondern auch politisch faul: Demokratie lebt vom Kompromiss und vom ständigen Aushandeln von Differenzen. Ebenso undemokratisch ist die umgekehrte Argumentation und die daraus abgeleitete Forderung, aus einer vermeintlichen demokratischen Notwendigkeit einen Zwang zu konstruieren, dass eine Unionspartei mit der AfD koalieren müsse, obwohl beide in zentralen Fragen der Wirtschaft, Europas und des Euro radikal gegensätzliche Positionen vertreten.

Das eigentliche Systemproblem zeigt sich, wenn alle in unterschiedliche Richtungen ziehen – ein Zustand, der Fortschritt verhindert und politischen Stillstand fördert. Gerade in einer Zeit, in der sich nicht nur Deutschland, sondern auch Europa neu definieren muss, ist es gefährlich, im Chaos der Polarisierung zu verharren. Ein geschwächtes Deutschland in einem geschwächten Europa wäre angesichts der aktuellen geopolitischen Lage ein doppelter Schlag – für das Land selbst und für das gesamte europäische Gefüge. 

Die Wahlen vom vergangenen Sonntag haben gezeigt, dass gerade dann, wenn die Demokratie besonders lebendig ist, sie uns auch besonders herausfordert, den Weg in eine gemeinsame, wenn auch ungleiche Zukunft zu finden. Es ist eine undemokratische Vorstellung, dass Fortschritt per se immer von einer stabilen Mitte ausgehen muss. 

Demokratie pulsiert am stärksten an den Rändern und bewegt sich nach innen ins Zentrum der Macht. Je näher die Parteien diesem Machtzentrum kommen, desto gemäßigter werden sie naturgemäß. Extreme Meinungen werden leiser, wenn sie mit der politischen Realität konfrontiert werden und Regierungsverantwortung übernehmen. Es mutet deshalb – gerade für einen basisdemokratisch sozialisierten Schweizer – befremdlich an, wenn eine demokratisch gewählte Partei von den Rändern, seien sie links- oder rechtsextrem, willkürlich aus dieser selbstverständlichen demokratischen Bewegung ausgeschlossen werden soll. Solange Parteien nicht verboten sind, sind sie erlaubt. 

Der vergangene Sonntag hat gezeigt, dass Parteien von den Rändern her Ausdruck des Widerstands gegen hegemoniale Machtstrukturen sind. Sie sind Signale für lange vernachlässigte gesellschaftliche Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse gilt es aufzugreifen, in die politische Arbeit einzubringen und nicht hinter einer Brandmauer zum Schweigen zu bringen. 

*Oliver Fiechter ist ein Schweizer Unternehmer, Philosoph und Publizist.